Der traditionelle Jahresausflug der Alpensozis führte Ende Juni ins Oberengadin. Dort sahen wir mit eigenen Augen, welche Themen die Region beschäftigen: Wohnraum, Biodiversität und Naturgewalten.
Die Gastgeberin Franziska Preisig, Co-Präsidentin der Sektion Oberengadin/ Bergell und Grossrätin, hatte das Programm mit grosser Sorgfalt zusammengestellt. Da es am Samstagmorgen bereits um 9 Uhr mit einer Kreuzotter-Führung in Bever losging, waren die meisten Teilnehmenden bereits am Vorabend des 29. Juni aus dem Appenzellerland, Uri, Tessin und Wallis angereist.
Die lehrreiche Kreuzotter-Exkursion führte uns an den renaturierten Inn. Auf diesem Streckenabschnitt wurde der Fluss nach erfolgreichen Verhandlungen mit den Landwirten und mit dem Segen der Gemeindeversammlung seit dem Jahr 2017 aus seinem engen Korsett befreit. Heute fühlt sich in der wiederbelebten Flusslandschaft nicht nur die Kreuzotter heimisch. Auch der Flussuferläufer oder der Regenpfeifer sowie die Äsche haben hier wieder wertvollen Lebensraum gefunden. Nicht zuletzt bietet der «Hotspot für Biodiversität» den Menschen im Tal einen effektiven, natürlichen Hochwasserschutz, was diese Tage leider ein sehr aktuelles Thema ist.
Bewundert und bestaunt werden aber nicht nur die Kreuzottern, sondern auch das malerische Farbenspiel in der Auenlandschaft. Ab und zu weht eine Duftschwade von Kerosin vom nahegelegenen Flugplatz Samedan zu uns herüber, was dem «Auen-Erlebnis» gar einen «kosmopolitischen Touch» verleiht.
Zweite Station des Alpensozi-Reislis war Muottas Muragl. Langsam kriecht die Standseilbahn die 700 Höhenmeter bis zur Bergstation hoch, vorbei an vielen trockenen Strünken von entwurzelten Fichten. Ein paar Alpensozis unterhalten sich darüber, wie vor kurzem in Maloja eine Liegenschaft mit viel Landwirtschaftsland von einem Modeunternehmen für acht Millionen Franken gekauft wurde, obwohl Pro Natura denselben Betrag geboten hatte.
Angekommen auf 2450 m.ü.M. deckt sich die Gruppe als Erstes im Bergrestaurant ein mit Sandwiches, Kuchen und Getränken und nimmt Platz an einem Tisch auf der Aussichtsterrasse. Während dem Mittagessen erzählt uns Franziska, weshalb die Annahme der Zweitwohnungsinitiative – für die sie sich persönlich stark gemacht hatte – im Oberengadin am Ende sogar kontraproduktiv war: Nach jahrelangen zähen Verhandlungen und Diskussionen hatten sich nämlich die Gemeinden des Oberengadins bereits Jahre zuvor durchgerungen, dem zügellosen Bau vom Zweitwohnungen Grenzen zu setzen und Wohnraum für Einheimische zu schützen. So wurden die Flächen für den Bau weiterer Zweitwohnungen auf 12 000 m2 pro Jahr für das gesamte Oberengadin begrenzt und viele Gemeinden schrieben in ihren Bauordnungen einen obligatorischen Erstwohnungsanteil zwischen 30 – 50% vor. (Bever hatte gar bereits anfangs der 1980er-Jahre eine Erstwohnungsanteilspflicht eingeführt.) Als es dann darum ging, das Zweitwohnungsgesetz auf Gemeindeebene umzusetzen, wurde die Gelegenheit genutzt, um die Errungenschaften für Erstwohnraum wieder zunichte zu machen, mit den bekannten Folgen.
Die Aussicht ist zwar etwas getrübt vom Saharastaub, trotzdem können wir über Celerina und St. Moritz bis zum Silsersee sehen. Und in die Val Roseg, wo die Folgen des massiven Bergsturzes von Mitte April 2024 deutlich erkennbar sind: Meterweise Geröll verdeckt den Wanderweg und versperrt den Zugang zum beliebten Ausflugsziel Lej da Vadret.
Auf der anderen Seite, unterhalb der Fuorcla Muragl, kann ein geologisch geschultes Auge einen sogenannten Blockgletscher erkennen. Das Gebilde aus Eis, Schutt und Geröll fliesst zwar ins Tal wie ein Gletscher, was es aber technisch gesehen nicht ist. Blockgletscher sind wichtige Indikatoren für Permafrost. Dieser droht aufgrund der Klimaerwärmung zunehmend instabiler zu werden und sich weiter in die Höhe zurückzuziehen. Mögliche Folgen davon sind Steinschlag, Murgänge oder eben Bergstürze.
Nach dem Zmittag wandert die Truppe auf dem Höhenweg Richtung Alp Languard. Oberhalb der Hütte Unterer Schafberg, wo wir eine kurze Pause einlegten, berichtet Barbara Tuena Giovanoli, was es mit dem Namen Schafberg auf sich hat: Vor 200 Jahren hätten hier die Bergamasker ihre Schafe geweidet. Um Weideland zu schaffen, haben sie brandgerodet. Etwas, das heutzutage absolut undenkbar wäre. Denn der Wald an den steilen Hängen oberhalb Samedan und Pontresina ist als Schutzwald A eingestuft. Das heisst, er soll Schutz gegen ein hohes Risiko von Lawinen, Erdrutsche oder Murgängen bieten. Deshalb sind auch oben am Berg viele Lawinenverbauungen angebracht. Heftige Stürme, zuletzt Vaia Ende Oktober 2018, haben dem Schutzwald jedoch stellenweise sichtbar zugesetzt.
Bevor wir einen Bergbach durchqueren, weist uns Franziska auf einen grossen Wall unten im Tal hin. Diesen hat man gebaut, um zu verhindern, dass allfällige Lawinen oder Murgänge in Pontresina grossen Schaden anrichten können. Auf dem Wall begegnet man übrigens jeden Frühling der schweizweit bekannten Steinbockherde. Dieses Jahr schlich zeitgleich mit den Steinböcken ein Wolf um die oberen Häuser von Pontresina, wie Franziska erwähnt. Das war aber hier im Engadin keine Schlagzeile wert.
Kurz vor dem letzten Aufstieg in Richtung Alp Languard kommen wir vorbei an nassen Felsen und einem Schild, das vor Steinschlag warnt, bevor wir in einem Schutztunnel eine Rinne passieren.
Am Ziel angekommen, nehmen wir nach einer kurzen Verschnaufpause je zu zweit Platz auf einem Sessel und schweben hinunter nach Pontresina. Hinweg über Wald, Wiesen und Hochlandrinder, die sich weder durch den Sessellift oder mein Grüssen in ihrer Ruhe stören lassen.
Aufgezeichnet am 3. Juli 2024 von
Monika Baumgartner, Präsidentin SP Prättigau
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